"Gegenstrebige Fügung"

Im Oktober 1779 hält sich Goethe im Verlauf seiner zweiten Reise in die Schweiz im Berner Oberland auf. Inspiriert vom Staubbachfall zwischen Lauterbrunnen und Stechelberg entsteht der bekannte, von Schubert Jahrzehnte später vertonte Gesang der Geister über den Wassern. Das sechsstrophige Gedicht endet mit "Schicksal des Menschen / wie gleichst du dem Wind". - Die Bewegung der Menschenseele vollzieht sich als ein Auf und Ab, ein Himmel- und Erdwärts zweier Geister, welche die Rezeption festen Versen zuordnen zu können glaubt. - Dimmt man den Gesang der Geister auf ein Gespräch der Geister herunter, liegt darin die treffende Beschreibung der Korrespondenz, die sich zweihundert Jahre später zwischen Hans Blumenberg und Carl Schmitt vollzieht, zweier Geister über den Wassern. Die "subkutane Dramaturgie" dieses Briefwechsels, welche ihm Alexander Schmitz und Marcel Lepper als Herausgeber attestieren, hat Blumenberg in einem Brief an Jacob Taubes (24. Mai 1977) dargestellt und damit nach Ansicht der Herausgeber "eindrucksvoll sein Desinteresse an einer moralischen Bewertung bundesrepublikanischer Geschichte - und damit auch seiner eigenen - artikuliert". (Hans Blumenberg / Carl Schmitt; Briefwechsel; S. 260). An Taubes, der Blumenberg zuvor die Kopie eines Briefes an Gershom Scholem zugeschickt hatte - nichts Ungewöhnliches für Taubes - schreibt Blumenberg: 

Da Ihr Brief an Herrn Scholem wohl kaum anders alsˋhalboffiziell´ genommen sein will, muß ich auch noch eine Bemerkung zu der Art machen, wie der Name Carl Schmitt von Ihnen eingeführt und in die Schematik von Rechts und Links eingebracht wird. Ich gestehe jedem das Recht zu, den persönlichen Kontakt mit irgend jemand anders zu meiden und diesem lebenslang nachzutragen, was immer er gesagt oder getan haben mag. Dagegen gibt es kein Mittel und kein Recht. Dies aber in die öffentliche oder halböffentliche Selbstdarstellung einzubeziehen oder einbezogen zu sehen, ist mir ebenso zuwider wie die moralischen Zensoren es sind, die an allen Ecken und Enden ihre Gerichtstage halten, wieder Schilder umhängen und Plätze auf der Skala zwischen Rechts und Links verteilen, wobei dann entschieden werden darf, wer beim großen Schwenk noch mitgenommen wird und wer nicht. Wer da richtig placiert ist, bekommt jeden Applaus und jede argumentative Hilfe, jede Nachsicht und jeden hermeneutischen Kredit bis an die Grenze des Widersinns und über diese hinaus. Sie brüsten sich, den persönlichen Kontakt mit einem heute fast Neunzigjährigen zu meiden, weil er vor fast einem halben Jahrhundert wahrhaft abscheuliche Dinge geschrieben hat, deren Typus aber im intellektuellen Milieu und im dort bestehenden Drang der Selbstdarstellung und Zitierbarwerdung mit anderen Figuren und Stoßrichtungen nicht ausgestorben ist. Wir machen unendliche Anstrengungen, den Geist des moralischen Gerichts und der Rache aus unseren Institutionen zu verbannen, was auch entgegengesetzt in unseren Kämmerchen gedacht und gewünscht werden mag. Das ist eine der großen Leistungen, in welchen der Staat sich sogar der Mehrheit des Willens seiner Bürger entgegenstellt. Nur wer aus der falschen Position das Falsche je gesagt hat, soll der Aussätzige bleien, und man schmückt sich damit, ihn zu verachten. Ich sage nichts gegen den unüberwindlichen persönlichen Widerstand, den jemand da empfindet und mit dem er sich abfinden muß; im Gegenteil, ich respektiere auch die Unfähigkeit, vergessen zu können. Aber das intellektuelle Schiedsgehabe des Wer-noch? und Wer-nicht-mehr?, widert mich an. Ich habe nie persönliche oder sachliche Sympathie für Martin Heidegger gehabt, aber gegen seine neueren Zensoren begehre ich auf. Ich möchte Ihnen daher auch das nackte Faktum mitteilen, daß ich 1971 den Kontakt zu Carl Schmitt gesucht und gefunden habe.

Es sei dahingestellt, wie weit sich Jacob Taubes dies hat zu Herzen genommen; jedenfalls hat diese Passage dazu gereicht, daß Taubes nun seinerseits den Kontakt zu Schmitt suchte. Er selbst fertigte eine "Zusammenfassung" von Blumenbergs "Brief der Freundschaft und Intensität" an und macht sie publik in seinem Buch Ad Carl Schmitt - Gegenstrebige Fügung (S. 69f.) - "Den Geist des moralischen Gerichts ... verbannen" - nur so konnte sich gegenstrebig zum einmaligen Gesang der Geister über den Wassern fügen, was noch heute vor dem Gerichtstag moralischer Zensoren keinen Bestand hätte. 

 

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