Peter Sloterdijk über die spielerische Seinsweise und Langeweile als Kulturmotor:

 

"Ich mag kein Blatt: Mäh! Mäh!"

 

Was im Tischlein, deck dich! die Antwort der Ziege ist, bezieht sich auf den meist durch Chlorophyll grün gefärbten Teil höherer Pflanzen. Kein Blatt vor den Mund zu nehmen, findet seinen Ursprung in einer Art Maskenpflicht am Theater, wonach die Schauspieler sich Blätter vors Gesicht hielten, um den Status des Gesprochenen als von Rechenschaft befreites Sprechen zu generieren. Ein unbeschriebenes Blatt zu sein, heißt, unbekannt zu sein, nicht einschätzbar zu sein. Hier ist es das Blatt Papier, das der Metapher zugrunde liegt. Und wenn etwas auf einem anderen Blatt steht, verweist man damit auf einen anderen Zusammenhang oder involviert Zweifel an Authentizität oder Rechtmäßigkeit. Hat sich gar das Blatt gewendet, ist die Grundbedeutung dem Karten- und Glücksspiel entnommen. Ebenso kann man ein Zeitungsblatt abonnieren. Schließlich hat es das Blatt als Schulterblatt in die medizinische Terminologie geschafft und als Blattschuß in die Jägersprache. 

Will man sich zu eigen machen, daß die Philosophie es mit dem Unauffälligen und Unscheinbaren zu tun hat, daß sie also allererst sichtbar macht, wovon sie handelt, ist das Blatt Papier als stoffliche Grundlage von Buchstaben, Texten, Zeichnungen und anderen sinntragenden Zeichen ein Prototyp solcher Unscheinbarkeit. Das Blatt Papier als Gegenstand rezeptiver Flächigkeit hat die Aufmerksamkeit der Philosophen allenfalls in Form des white pape, der tabula rasa bei John Locke gefunden, jedoch in seiner metaphorischen Verwendung. Der "Sog zum Sinn" und die "Dominanz der Figur" (Manfred Sommer; Stift, Blatt und Kant) haben den Blick auf das Phänomen des weißen Blatts verstellt. Es sind die Zeichen und die Zeichnung, welche unser Hinschauen bestimmen. "Das Blatt ist unser leibhaftes Gegenüber und hat eine besondere Beziehung zu der Hand, die es hält, und zum Gesichtsfeld, auf dem es erscheint." (Manfred Sommer; Stift, Blatt und Kant; S. 27) -

 

Punkt, Punkt, Komma, Strich ...

Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch

(Martin Heidegger)

 

Als Graphismus bezeichnet man im Bereich des Graphikdesigns den weiten Bereich aller Ornamentik, u.a. auch künstlerische Zeichnungen, Typographik, Notationen, Comics, Kritzeln. Aus semiologischer Sicht haben Roland Barthes, Jacques Derrida, Bruno Latour, im deutschsprachigen Raum auch Sybille Krämer, Sabine Mainberger, Dieter Mersch und andere graphische Miniaturen untersucht; jedoch gab es bislang kaum eine explizite Philosophie des Graphismus. Diese hat nun Manfred Sommer vorgelegt. Stift, Blatt und Kant behandelt Zeichen und Zeichnung, Text und Bild vor dem Hintergrund des Schematismus-Kapitels aus Kants Kritik der reinen Vernunft. "Vergängliche Handbewegungen hinterlassen .. bleibende Spuren." (S. 9)

"Warum Philosophie? Weil die Bewegung eines leibhaft tätigen Ich, durch die der Graphismus zur Welt kommt, die fundamentale Weise menschlichen Weltbezugs ausdrücklich darstellt. Schon ehe Sinn und Bedeutung sich bemerkbar machen, inszenieren wir mit Stift und Blatt ein Schauspiel, das exemplarisch ist für unser In-der-Welt-Sein, und lassen dabei ein dauerhaft sichtbares Zeugnis von diesem existentialen Akt zurück." (S. 9) Graphismen sind gleichsam die Stammzellen dieses Zeugnis. 

 

 

 

Nachdenklichkeit

Zur Typologie des philosophischen Denkens gehört die von Hans Blumenberg in seinen Essays und Miniaturen gepflegte Nachdenklichkeit. Sie ist der Gegenentwurf zu allem vorstürmenden, prometheischem Denken, das sich seiner Sache sicher ist und sich kein skeptisches Innehalten erlaubt, schon gar keine Umständlichkeiten und Umwege. Nachdenklichkeit vollzieht sich im Modus des Flanierens; es braucht und verbraucht Zeit, ist Verzicht auf die rasche Indienstnahme von Thesen und Behauptungen. Versonnenheit und kaum mehr als Konjekturen, Andeutungen und Verzögerungen kennzeichnen die Nachdenklichkeit. Sie mag Attitüde sein, jedoch eine, die sich der Schreibfluß anmerken läßt und die ihn auf Umwegen zur Sache kommen läßt. -

Die Nachdenklichkeit verweigert sich den Verengungen, welche der wissenschaftliche Diskurs als verfahrenstechnische Errungenschaften und methodologische Notwendigkeiten ausgibt. Die Freiheit der Abschweifung - Ausschweifung inbegriffen - ist es, auf welche die Nachdenklichkeit sich beruft und die sie in ihr Recht gesetzt sehen will. Den Zeitgenossen erscheint sie als glamourös, als Inanspruchnahme eines Luxus, den sich die Philosophie als strenge Wissenschaft versagen will. Es ist der Luxus, Antworten auf Fragen, die man aufgeworfen hat, in ihrer Verbindlichkeit schuldig zu bleiben. "Dialogstrategien überlassen keinen seiner Nachdenklichkeit." (Hans Blumenberg) - 

 

"Fiktionen"

In Fiktionen von Markus Gabriel ist gleich auf den ersten Seiten desöfteren vom "moralischen Fortschritt" die Rede. Es ist nicht irgendein moralischer Fortschritt in irgendeiner Angelegenheit, der hier angemahnt wird; es geht um den "moralische[n] Fortschritt der Menschheit, [..] dem aller naturwissenschaftlich-technische Fortschritt untergeordnet werden muß, wenn er nicht auf kurz oder lang zur vollständigen Selbstvernichtung unserer Lebensform führen soll". (Markus Gabriel; Fiktionen; S. 23f.) - Der moralische Fortschritt der Menschheit - unter dem verhandelt Gabriel nicht. Ohnehin scheint Gabriel von einem Mangel an Selbstbewußtsein nicht geplagt: "Ich werde in diesem Buch den Grundsatz einer neuen Philosophie entwickeln ..." hieß es bereits in Warum es die Welt nicht gibt (S. 9) Nun ist es der moralische Fortschritt aller in moralischen Angelegenheiten, in dessen Dienst der Jungstar der deutschen Philosophie sein Werk stellt. - Dabei sind die Gegnerschaften dieses Wegs von Gabriel klar ins Visier genommen, der "blinde Naturalismus",  der "Brachialszientismus", der "haltlose Skeptizismus", von den "Konstruktivisten" und den "Kulturrelativisten" gar nicht erst zu reden. - Wer möchte in diesem Kampf nicht auf der richtigen Seite stehen! -  Fiktionen ist ein Buch, das den Usancen akademischer Praxis gerecht wird, was im Falle Gabriels nicht selbstverständlich ist. 

Für das Feuilleton ist Markus Gabriel ein Glücksfall. Endlich jemand, dessen Philosophie sich in Thesen komprimieren läßt, sich Überschriftformaten fügt; dazu ein Philosoph, der konfliktbereit gegen die elfenbeinturmbehauste akademische Philosophie auftritt; jemand der mit dem "Neuen Realismus" nach Jahrhunderten von Fehlversuchen nun ein neues Kapitel aufschlägt und endlich erklärt, was es mit der Welt, die es nicht gibt, auf sich hat. Zudem ein windschnittiger Interviewpartner, der die Öffentlichkeit sucht wie kein anderer, Interviews mit dem "Handelsblatt" oder "Capital" inbegriffen. Popularität, Medienaufmerksamkeit, Umtriebigkeit - keine Gelegenheit bleibt ungenutzt, um Reklame für Bücher und Ansichten zu machen. Im Philosophischen Jahrbuch dagegen schaut man etwas genauer hin. Katrin Neuhold hat die "Selbstverständlichkeiten und Schlammschlachten" dort zusammengetragen: Unanzweifelbare Gewissheiten und offenkundige Absurditäten. Über Sinnfeldontologie, Naturalismus und Kantianismus als metaphysische Modelle. Darin heißt es in Bezug auf die Sinnfeldontologie:

"Bei dem Versuch, diese Thesen [der Sinnfeldontologie] zu präzisieren, hat sich eine allgemeine Tendenz gezeigt: Entweder ergeben sich daraus Thesen, die zwar wahr und plausibel sind, aber dafür auch völlig unkontrovers, metaphysisch uninteressant und alles andere alsˋneu´. Oder wir gelangen zu Thesen, die philosophisch zwar substantiell, dafür aber weder einleuchtend, noch argumentativ durch das, was Gabriel dazu schreibt, gestützt sind." (Catharine Diehl, Tobias Rosenfeldt; Gibt es den neuen Realismus? in: Jahrbuchkontroversen 2; S. 64) - Die beiden Autoren kommen zu dem Ergebnis: 

"Es hat sich ferner gezeigt, daß etliche von Gabriels Überlegungen auf Unkenntnis oder aber massivem Mißverständnis grundlegender Annahmen und Begrifflichkeiten derjenigen Theorien zu beruhen scheinen, die für das von ihm behandelte Thema einschlägig sind. Diese theoretischen Unsicherheiten stehen in einem merkwürdigen Kontrast zu dem autoenthusiasmierten Selbstbewußtsein, mit dem Gabriel seine eigenen Thesen anpreist und die seiner Gegner attackiert." (a.a.O.; S. 64) - 

Bleibt zu hoffen, daß man dem angestrebten "moralischen Fortschritt der Menschheit" nicht allzu sehr im Wege steht und daß Gabriel heil aus Syrakus zurückkommt. -

Dekolonialisierung der Philosophie

Wie sehr die übliche Vorstellung von Geschichte als einem linearen Verlauf in kontinuierlichen Sequenzen das Verständnis für die "Geschichtlichkeit der Geschichte" (Blumenberg) behindert, zeigt exemplarisch jene bilderstürmende Aktion, die sich mit dem Begriff einer "Dekolonialisierung der Philosophie" verbindet. "Es gibt eine Sammlung von Idiotien in der Philosophie und die muß man zerpflücken", meint Nadia Yala Kisukidi im Interview mit dem Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/aufarbeitung-des-kolonialismus-kein-philosophisches-denken.911.de.html?dram:article_id=480677

Geschichte wird gedacht als eine auf das aktuelle Jetzt zulaufende Abfolge von Episoden, deren höchste erkenntnismäßige und moralische Dignität sich im Hier und Jetzt verkörpert. Wie war es möglich, daß ein aufgeklärter Geist wie Immanuel Kant von "vier Racen" sprechen konnte? - Eine solche Fragestellung verkennt jene im Hintergrund mitlaufende Weltorientierung, die Hans Blumenberg als "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen" bezeichnete. Als ein "himmelschreiendes Beispiel" nennt Kisukidi Husserls Krisis-Schrift. Welche "Idiotien" ein späteres Zeitalter wohl am jetzigen diagnostizieren mag? - 

 

Auf Umwegen

Auf Umwegen zu sein, schließt auf Abwegen zu sein, ein. Hans Blumenberg hat in seinen großen Monographien dem Leser zugemutet, ihm auf seinen Umwegen zu folgen, ohne daß der Leser dabei der Gefahr der Abirrung gänzlich entgehen könnte. Dafür bleibt zu vieles offen, was in langen Phrasierungsbögen ausgeführt, besser noch aufgeführt wird. Für die Leser bedeutet das, den Mut aufbringen zu müssen, sich in Entlegenes entführen zu lassen. Blumenberg hat hier dem Leser im guten Sinn des Wortes Zumutungen angetragen, die bisweilen als im schlechten Sinn des Wortes Zumutungen abgelehnt werden. Wer Greifbares, gar Zählbares erwartet, was er im Räderwerk aktueller philosophischer Diskussionen verwerten kann, wird enttäuscht werden. Blumenberg´sche Panoramen lassen sich nicht auf Schnappschüsse reduzieren. Thesen sind seine Sache nicht. An Jacob Taubes schreibt Blumenberg: "Das Wesen wird durchs Resume des Wesentlichen verfälscht. Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren läßt, spricht gegen sie." (Hans Blumenberg/Jacob Taubes; Briefwechsel; S. 135) -

Jürgen Goldstein berichtet in seiner Blumenberg-Biographie eine Anekdote, die den Zumutungscharakter Blumenberg´scher Vorlesungen illustriert: "Als in einer seiner Vorlesungen ein Student sich erlaubte zu fragen wie man einen von Blumenberg erwähnten Autor schreibt [...] ging Blumenberg für kurze Zeit dazu über, jeden in der Vorlesung auftauchenden Namen umständlich zu buchstabieren und anzuschreiben, auch etwa den Namen Kants, sodaß niemand mehr nachzufragen sich traute." (Jürgen Goldstein; Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait; S. 32) - Es ist die Ungeduld des Zeitgeists, der alsbald Präzision dort erwartet, wo erzählt wird und definitorische Vorläufigkeit nicht goutiert. Blumenberg fühlt sich bei der sprachlichen Ausgestaltung seiner Kultur der Umwege dem Leser nicht verpflichtet. Das Vokabular ist zeitgenössischen Leseerwartungen gegenüber ungnädig. Griechische und lateinische Zitate erinnern an die Selbstverständlichkeit, mit der man in Zeiten der Gelehrsamkeit seine Klassiker in der Originalsprache zitierte. Wer sich anschickt, Blumenbergs Umwege abzuschreiten, darf sich nicht scheuen, Mängel am eigenen Rüstzeug einzugestehen. Im Todesjahr von Blumenberg, 1996, schreibt Dieter Henrich, zeitweise Weggefährte und Kontrapunkt Blumenbergs bei Poetik und Hermeneutik im Merkur einen Artikel mit dem Titel Eine Generation im Abgang. Blumenbergs Bücher seien Werke, die "durch ein gewaltiges Arsenal von Kenntnissen zu schwer erschließbaren Massiven hochgesteigert" seien. Jürgen Goldstein ergänzt: "Bei der Lektüre droht dem Leser in der Steilwand des Denkens der Absturz." (a.a.O.; S. 31) - Die Generation Blumenberg ist abgegangen. Sich an den Massiven Blumenberg´scher Ausmaße zu versuchen, schärft den Blick für manche philosophische Flachlandschaft. Ich nenne keine Namen. -

 

Gelehrsamkeit

Die Gelehrsamkeit ist aus der Zeit gefallen. Sie trägt die Signatur des Unzeitgemäßen, denn sie erscheint den Zeitgenossen als Marotte einer schrulligen Verschrobenheit, als überflüssiges Beiwerk, das den Blick auf die Dinge verstellt, statt freilegt. Das gilt auch in der Philosophie, in der man sich inzwischen beim Proklamieren einer neuen Philosophie oder gar beim Einläuten eines neuen philosophischen Zeitalters nicht mehr geniert. Hier ist man in vorderster Front nach dem dernier cri gekleidet, wonach sich das Vergangene erledigt hat, weil es das Vergangene ist, versunken im Meer des Unwissens, das uns sein Wasser vermeintlich nicht mehr reichen kann. Man dünkt sich dem Alten und nicht selten den Alten überlegen, weil man Anstoß an ihrer Wirklichkeit und ihrem Wirklichkeitsverständnis nimmt. Wenn jetzt erst das Wirkliche erkannt, benannt, in seinem Wirken letztgültig verstanden wird, so bleibt für frühere Wirklichkeiten nur noch der Status des Vorläufigen, das nun überholt ist, übersprungen werden kann, bestensfalls archiviert wird. - 

Hans Blumenberg hat seiner Zeit die "Verachtung von Gelehrsamkeit" diagnostiziert und dem "Vorteil der Authentizität durch Geschichtslosigkeit" das "Risiko der Lächerlichkeit" beigesellt in Form der "Verblüffung, daß schon lange und vielgestaltig gesagt worden ist, was einer zum erstenmal gesagt zu haben meint." (Hans Blumenberg; Höhlenausgänge; S. 791) - Weil früher nicht alles besser war, ist heute nicht alles schlechter. Sich vor Verdrießlichkeiten gegenüber dem Gegenwärtigen zu hüten, gehört zur Zurückhaltung der Gelehrsamkeit, die sich nicht in besserwissender Zeitkritik erschöpfen darf. Ihr gilt nur keineswegs schon ausgemacht, daß jedes als "neu" Eingekleidete sich nicht doch als alter Hut erweist, der philosophische Dürftigkeiten kaschiert, die sich incognito wähnen. -